Rígsþula

Ein edler Sinn liebt edlere Gestalten
(Schiller, Das Mädchen von Orléans)

Läßt sich aber gegenüber dem deutschen Adel unserer Zeit, läßt sich gegenüber dem deutschen Adel der letzten Jahrhunderte noch von „Rasse“ sprechen? —

Um zu einer Antwort auf diese Frage zu kommen, muß die Betrachtung noch einmal zurückgehen bis auf die frühgermanischen Ständeverhältnisse oder deren Keime. Als „frühgermanisch“ kann aber der skandinavische Norden noch zu einer Zeit gelten, in welcher außerhalb der nordwesteuropäischen germanischen Stammlande schon das eigentliche „Mittelalter“ herrschte. Aus dem skandinavischen Norden liegt nun ein Zeugnis aus dem 10. oder 11. Jahrhundert vor, das die ständischen Verhältnisse widerspiegelt, wie sie in dem „Germanien“ geherrscht hatten, das Tacitus beschreibt, ein Zeugnis, das zugleich die Beziehungen zwischen Ständeschichtung und Rasse aufhellt. Es ist das in der Edda enthaltene Merkgedicht von Rig.

Ein Ase, Rig, vielleicht wesenseins mit Heimdall, tritt auf einer Fahrt über die Erde dreimal bei je einem Ehepaar ins Haus ein: erst bei Urvater und Urmutter, dann bei Großvater und Großmutter, zuletzt bei Vater und Mutter, wie die Namen jeweils lauten. Jedesmal zeugt er mit der Frau einen Sohn.

Urmutter gebiert einen Knaben mit gelblich-dunkler Haut und schwarzem Haar, mit garstigem, dickem Gesicht, dicken Fingern und knotigen Knöcheln. Er wird Thräl genannt, d. h. Unfreier, Knecht, Sklave. Als Frau wird ihm, da er erwachsen ist, eine plattnäsige, braunarmige Magd gegeben, Thir genannt, d. h. Unfreie, Sklavin. Von Thräl und Thir stammen die Unfreien ab. Ihre Kinder erhalten Namen wie Derber, Stinkender, Dunkelbrauner, Dickwanst, Stumpen, Klotzige, Stämmige, Dickwadige, Lärmende.

Großmutter gebiert einen Sohn mit rötlicher Haut, rötlichem Haar und blitzenden Augen. Er wird Karl genannt, d. h. Gemeinfreier. Später wird er mit einer Frau gleichen Standes zu den Stammeltern der Gemeinfreien. Seine Kinder führen Namen wie Mann, Tüchtiger, Breitschultriger, Stolze, Schmucke, Übermütige, Sittsame, Willensstarke.

Mutter gebiert einen Sohn mit lichtblondem Haar, lichter Haut, leuchtenden Wangen, mit Augen „blitzeschleudernd wie Schlangenaugen“. Er wird Jarl genannt, d. h. etwa Graf oder Herzog. Als Gattin wählt er sich später die Tochter eines Hersen, d. h. eines Gauführers: eine einsichtsvolle, schneeweiße Jungfrau mit schlanken Fingern. Von diesen Eltern stammen die Jarle ab.1) Ihre Kinder führen Namen, die immer wieder Erbe, Sprößling, Erbin bedeuten. Zu Jarl kommt eines Tages Rig, der Ase, sein Erzeuger, verleiht ihm seinen eigenen Namen, schenkt ihm Stammgüter und lehrt ihn Waffenkünste und edles Auftreten. Ein Sohn Jarls soll dereinst König werden. —

Man sieht, das Merkgedicht von Rig, das Werk eines um das Jahr 1000 lebenden norwegischen oder isländischen Dichters, ist weniger ursprüngliche Dichtung, eher schon so etwas wie gelehrte Dichtung, Gedanken eines, der über die Entstehung der Stände nachgesonnen hat, nachdem er die leiblich-seelischen Eigenheiten der Stände auf seinen Fahrten beachtet und das Bezeichnende in diesen Eigenheiten als etwas Vererbliches erkannt hatte. Es handelt sich in diesem Gedicht doch nicht eigentlich um eine Fabelei über das Aufkommen eines Geburtsadels. Wie gezeigt wurde, gab es außer der Schranke zwischen Freien und Unfreien im alten germanischen Norden keine scharfen Trennungen. Alle Freien waren unter sich „ebenbürtig“, um es mit einer Bezeichnung späterer Zeiten auszudrücken. Das Hersentum wie das Jarlstum waren mehr Ämter, hervorragende Stellungen innerhalb einer Bevölkerung von Freien und Gleichen, Ämter, meist von einem König verliehen oder auch wohl öfters durch anerkannte Tüchtigkeit eines Mannes aus anerkannt tüchtigem Geschlecht erreicht. Keineswegs waren das Hersen- oder das Jarlsamt erbliche Würden oder gar Titel.2) Die Keime aber sind hier gegeben, welche damals in den Germanenstämmen Mittel-, West- und Südeuropas sich schon zu einem Geburtsadel entfaltet hatten.

Was im Merkgedicht von Rig aber wichtig ist, sind die Hinweise auf rassische Züge, welche das Gedicht gibt:

Wirkt nicht die Schilderung der Thräle wie eine dichterische Übertreibung der Züge, welche die „Rassenkunde des deutschen Volkes“ und die „Rassenkunde Europas“ als körperliche Merkmale und seelische Eigenschaften der ostischen (alpinen) Rasse schildern mußte? Läßt sich die Schilderung der Freien, der Karle wie der Jarle, nicht unmittelbar vereinen mit dem leiblichen und seelischen Wesen der nordischen Rasse? — Hansen hat in „Menneskeslægtens Ælde“ die beiden im Merkgedicht von Rig erwähnten Rassen durch Vertreter aus der heutigen Bauernbevölkerung Norwegens zu belegen versucht. Es sind die gleichen Rassen, welche in gleicher Stellung als Herren und Knechterasse, ins Lächerliche übertrieben, bei Cervantes in Don Quixote und Sancho Pansa erscheinen. Auf die gegenseitige Abneigung der beiden Rassen im skandinavischen Norden scheint noch ein Vers der Gunnlaug-Saga hinzudeuten, der davor warnt, einem „bösartigen und schwarzen“ Mann zu trauen (hann er illr ok suarter). Zwerge wurden von den germanischen Volkssagen als schwarz, Elben (Elfen) als hell geschildert.

Norwegischer Bauer
nordischer Rasse

Norwegischer Bauer
ostischer Rasse

(Nach Hansen, Menneskeslægtens Ælde, 1894—98)

Im Merkgedicht von Rig fällt aber auch noch auf, daß der Dichter nicht nur die rassische Verschiedenheit der Freien und Unfreien beachtet hat, sondern daß ihm bei Betrachtung des erblichen Unterschieds der Karle und der Jarle das Auftreten zweier Schläge innerhalb der gleichen Rasse bewußt geworden ist. Die Karle unterscheiden sich von den Jarlen in der Weise, wie der „grobe Schlag“ von dem „feinen Schlag“, den die Rassenforschung innerhalb mancher Rassen feststellen konnte. Der altnordländische Dichter hat also bemerkt, daß die Schicht der Jarle innerhalb der nordischen Rasse das darstellte, was die heutige Erblichkeitsforschung als „Auslese“ bezeichnet, genauer als „Standesauslese“ (soziale Auslese). Durch eine Gattenwahl, welche die „einsichtsvollen, schneeweißen, schlankfingrigen“ Hersentöchter bevorzugt hat, war der besondere „Adel“ der Jarlsgeschlechter entstanden, ja die Hersenschicht hatte sich schon als eine Auslese innerhalb der Schicht der Freien gebildet.

Mit den Anschauungen des Merkgedichts von Rig stimmen die Anschauungen der Isländergeschichten überein, denen helles Haar und helle Augen, betonte Schulternbreite und Hüftenschmalheit des Mannes, hohe gerade Nase, als Bedingungen zur Schönheit galten, während schwarzes Haar und dunkle Augen, eine kurze eingedrückte Nase, große Hände und Füße als häßlich galten.3) Es gab ein Fluchwort: „Werde zum Knecht, schwarz und schlecht.“ Unfreie tragen in den Isländergeschichten öfters den Namen Svatr (der Schwarze).4)

Was den alten Nordgermanen bewußt war, muß aber allen Stämmen der Germanen seit alters bewußt gewesen sein. Nicht-nordisches Aussehen suchte man am ehesten in der Unterschicht oder bei südeuropäischen Völkern. Der in lateinischer Form überlieferte langobardische Name Gualah-brûnus zeigt, daß Braunheit der Haare und der Augen mit „welscher“ Abstammung, d. h. mit der Herkunft aus einem Volk romanischer Sprache, für die Vorstellung der Langobarden verbunden war. Der Name würde in mittelalterlichem Deutsch etwa Walchbrûn (Welschbraun) gelautet haben. Noch bis ins späte Mittelalter hinein erhielt sich im Abendlande wohl mehr oder weniger deutlich das Bewußtsein eines im Erbe liegenden, eines blutmäßigen Untergrundes aller ständischen Erscheinungen, wenigstens einer bestimmten Beziehung zwischen Adel und Rasse. . . .

Bezeichnend für die Anschauungen im mittelalterlichen Abendlande ist ja der Bedeutungswandel oder für diesen Fall besser: die Bedeutungsentfaltung des gemeingermanischen Wortes fagar in der Sprache der Angelsachsen: das Wort bedeutete, so auch im Altdeutschen „schön“ — „schön“ allerdings nur im Sinne der Vollendung des leiblich-seelischen Bildes der nordischen Rasse. Die Züge Thräls wurden ja als „garstig“ empfunden. Fagar, im Angelsächsischen zu fæger werdend, entfaltete sich dort zu den Bedeutungen „blond“ und „ehrenhaft“. Vielleicht hat erst der rassische Gegensatz zu den entnordeten Kelten der britischen Inseln die Bedingungen zu dieser Bedeutungsentfaltung gegeben. Als die Angelsachsen noch in Nordwestdeutschland saßen, hatte bei ihnen wie bei den deutschen Stämmen fagar noch allein die Bedeutung „schön“.5) Auf den britischen Inseln entfaltete sich die Bedeutung von fæger so, daß nur der Blonde als schön galt und nur die Gesinnung des freien Angelsachsen als „fair“ (aus fæger entstanden) gelten konnte. Unter den freien Angelsachsen galt fortan: das zu erstrebende Vorbild, der echte Angelsachse, war „fair“, d. h. nordisch-schön und nordisch-ehrenhaft. Sicherlich ist die Auslese in den mittleren und oberen Schichten des englischen Volkes bis in unsere Tage durch diesen, unbewußtem rassischem Empfinden entstammenden Begriff leiblich-seelischer fairness entscheidend beeinflußt worden. . . .


1) Altnordisch jarl = altniedersächsisch erl = alt- und neuenglisch earl.

2) Eingehend behandelt die ständischen Verhältnisse des germanischen Nordens M. W. Williams, Social Scandinavia in the Viking Age, 1920.

3) Vgl. u. a. Gautreksaga 3; Saga von Olaf Tryggvason 152; Grettirsaga 14; Kormaksaga 3; Njalssaga 19.

4) So im Landnahmebuch II, 24; in der Eyrbyggjasaga 26, Finnbogasaga 32, Njalssaga 36, Reykdœlasaga 11 und anderen.

5) Allerdings hatte aber „schön“ (skôni) im Altsächsischen wie im Althochdeutschen die Richtung auf „hell, glänzend, licht“, wie Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 1924, zeigt, eine Richtung, der dieses Wort im Englischen weiter gefolgt ist, wie sheen „hell, glänzend“ zeigt.


Hans F. K. Günther, Adel und Rasse (München: J. F. Lehmanns Verlag, 1927), S. 40-46.

This work was digitalised by Karl Earlson
2003


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