Einleitung

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Poca favilla gran fiamma seconda.
Dante, Paradiso I, 34.

D

as Wiedererwachen der Kultur in Italien während des Mittelalters und in der Renaissance verführte die damaligen Träger der Macht und Bildung zu dem Glauben, sich für die späten Abkömmlinge der alten Römer und ihre Schöpfungen für eine neue Blüte des antiken Geistes zu halten. Dante nannte Florenz „die schönste und berühmteste Tochter Roms“, und er war stolz darauf, daß seine Familie aus römischem Blut entsprossen sein sollte. Auch Petrarca vertrat die Ansicht, daß die Italiener die unmittelbaren Nachkommen der Römer und daß ihre Literatur eine Fortsetzung der römischen sei. Viele edle Familien suchten ihre Herkunft von berühmten Geschlechtern des Altertums mit unglaublich leichtfertigen Gründen nachzuweisen. So wollten die Massimi von Quintus Fabius Maximus, die Cornari von den Corneliern, die Manelli von den Manliern, die Barbi von den Ahenobarbi, die Zeni von dem Kaiser Zeno und die Plato in Mailand sogar von dem großen griechischen Philosophen gleichen Namens abstammen.

Um die italienische Kunstübung in unmittelbaren Zusammenhang mit der griechischen zu bringen, wurden Künstler wie Buschettus, der Erbauer des Domes von Pisa, der Maler Bizzomanus von Otranto und Rico von Candia für Griechen ausgegeben, obgleich ihre Namen deutlich genug auf germanische Herkunft hinweisen. Und die Menschen der Renaissance fühlten sich so sehr als „Römer“, daß sie die mittelalterliche Baukunst schlechthin eine gotische, d. h. nach ihrer Ansicht „barbarische“ nannten, da sie die Goten für die Zerstörung der alten Kunstwerke verantwortlich machten und ihnen die Erfindung der mittelalterlichen Kunst zuschrieben.

In den Schriften Machiavellis verspürt man deutlich den Haß gegen die „Barbaren“, und er nannte die Langobarden sogar „die letzte Pest Italiens“. Noch Leopardi, der unzweifelhafte Abkömmling von Langobarden, die einst in Recanati ihre Kastelle errichtet hatten, war über sich und sein Volk in einer anthropologischen Selbsttäuschung, wenn er schrieb: „O patria mia, vedo le mura e gli archi e le colonne degli avi nostri, ma la gloria non vedo.“ Unter diesen Umständen ist es eine auffallende Ausnahme, wenn der Novellist Bandello sich gotischer Abstammung rühmte, und wenn der Historiker Bacchini, wie Gregorovius erwähnt, die Langobardenrasse „das edelste Blut Italiens und die Erzeugerin seiner glänzendsten Taten“ nannte. Von den neueren italienischen Historikern sind nur Denina und Muratori anzuführen, die in ihren Schriften eine erfreuliche Vorurteilslosigkeit gegenüber den germanischen Eroberern zutage treten lassen. Aber sie bilden Ausnahmen unter ihren Volksgenossen, die heute noch gewöhnt sind, die nordischen Barbaren zu verachten und sich auf ihre „lateinische Rasse“ zu berufen, obgleich nur sehr spärliche Tröpfchen Blut von den alten Römern her in ihren Adern fließen.

Gino Capponi, der Verfasser einer berühmten „Geschichte der Florentinischen Republik“ (1875) meint, daß das neue italienische Volk seinen Ursprung aus der alten Bevölkerung genommen habe. „Die unterworfene italienische Bevölkerung, der nichts anderes übrig blieb, als Handel zu treiben und das Land zu bebauen, vereinigte sich in Gemeinden, indem es den Kampf gegen die Schlösser aufnahm, sich diese gleichsam tributpflichtig machte, wie es ja stets die Handeltreibenden mit den auf ihre Gewalt Trotzenden tun, und nach und nach durch die Kraft ihres Reichtums und ihre Klugheit noch schneller als durch Waffengewalt unterwarf. Auf diese Weise erlangte in ganz Italien, besonders aber in Toscana, die alte Bevölkerung das Übergewicht über die neue, welche sich nun mit der ersteren mischte oder zugrunde ging.“ (!) Und ohne irgend einen Beweis zu erbringen, behauptet er, daß die „Toscaner sich weniger mit den siegreichen Langobarden, Herulern oder Goten vermischten“. — Indes ist auch das redlichste Pathos des Patriotismus kein wissenschaftlicher Beweis, und meine Untersuchungen werden den unzweifelhaften Nachweis führen, daß gerade das Gegenteil von Capponis Behauptungen richtig ist.

Neuere Geschichtsforscher sind einem ähnlichen Irrtum verfallen. J. Burckhardt spricht von zwei weit auseinanderliegenden Epochen „eines und desselben Volkes“. Doch gesteht er gelegentlich zu, daß der „inzwischen anders gewordene Volksgeist der germanisch-langobardischen Staatseinrichtungen“ zur Entstehung der neueren italienischen Kultur beigetragen habe, ohne freilich diesem anthropologischen Einfluß näher nachzuforschen.

Es ist von jeher ein besonders reizvolles Problem gewesen, über die Ursachen nachzudenken, warum gerade Toscana in der Hervorbringung einer so großen Zahl bedeutender Talente sich auszeichnete. Lombroso, Capponi und andere wollen diese Überlegenheit dem Einfluß des etruskischen Elementes zuschreiben, sie machen aber keinerlei Versuch, nachzuweisen, daß Giotto, Dante, Petrarca, Leonardo, Galilei Abkömmlinge der alten Etrusker sind.

Der Meinung, daß die alten Kulturrassen Italiens, aus einem jahrhundertelangen Schlummer erwachend, die neue Bildung und Gesittung ins Leben riefen, steht die andere Hypothese gegenüber, die in der Verschmelzung des römischen und germanischen Volkstums die Quellen für die neue Entwicklung zu erkennen glaubt. Dabei verstehen die einen unter dieser Verschmelzung eine tatsächliche physiologische Mischung der Rassen, derart, daß die Verschmelzung der verschieden gearteten Gehirne und Nerven ein neues und besseres organisches Substrat schafft, aus dem die großen Geister und ihre Werke hervorgehen sollen. Die anderen denken dabei mehr an eine fruchtbare Verbindung von germanischer Kraft und römischer Kultur. Die erstere Auffassung wird in diesem Buche ausführlich widerlegt werden, und die letztere bedarf einer bedeutenden Einschränkung.

Graf Gobineau, der in der rassenanthropologischen Geschichtstheorie Epoche machte, verkannte zwar nicht den Einfluß der Germanen auf die nachrömische Geschichte Italiens, hielt aber die „Renaissance“ für eine Reaktion des romanischen Volksgeistes gegen den germanischen. Nach seiner Auffassung soll die einheimische Bevölkerung Oberitaliens so stark mit hellenistischen Elementen durchsetzt gewesen sein, wie man nur wünschen könne, „und da sie im Verhältnis zur germanischen Ansiedelung sehr zahlreich war, so mußte die Verschmelzung sie bald zum Übergewicht führen“. Er hält die Städteverfassung des mittelalterlichen Italiens für römisch, das Patriziat für antik und den ganzen geistigen Inhalt der Renaissance für „Romanismus“.

Gegenüber diesen Hypothesen — und es sind nur schlecht oder gar nicht begründete Hypothesen — wird dieses Buch den exakten Beweis führen, daß in anthropologischer Hinsicht weder Etrusker noch Römer und Griechen, sondern die eingewanderten Germanen, die Goten, Langobarden, Franken und Normannen im wesentlichen die Erzeuger der neuen Kultur Italiens gewesen sind, und daß nur eine geringe Anzahl von Talenten der vorgermanischen Bevölkerung zugeschrieben werden kann; daß es ferner in ideologischer Hinsicht falsch ist, von einem „Wiedererwachen des Altertums“ zu sprechen, daß der geistige Inhalt der nachrömischen Kultur vielmehr ein wesentlich neuer ist. Gewiß besteht eine Ideentradition von der klassischen Zeit her; ohne Zweifel wurden zahlreiche Anregungen vom Altertum direkt oder indirekt übermittelt, ja einiges kann man sogar als eine direkte Wiederholung bezeichnen, aber die wesentlichen Formen und Inhalte der neuen Kultur sind andere und eigenartige Lebensäußerungen einer neuen Rasse, die selbstschöpferisch auf die Bühne der Geschichte trat. Die neue Kultur hat vielmehr eine innere Verwandtschaft mit jener allgemeinen geistigen Bewegung, die fast zu gleicher Zeit, etwa um das Jahr 1000, eine neue Epoche in der Geschichte von ganz Europa einleitete. Es war der „Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte“, wie Ludwig Nohl es genannt hat, das geistige Erwachen der germanischen Rasse, die nach den Stürmen der Völkerwanderung zur Ruhe und Anpassung gekommen war und Muße fand, die angeborenen Anlagen zur Entfaltung zu bringen.

Vor mehr als hundert Jahren hat der große englische Historiker Gibbon als erster darauf hingewiesen, daß die Germanen es gewesen sind, denen das Wiedererwachen der Künste und Wissenschaften zu verdanken ist. In seinem berühmten Werk über „Die Geschichte des Untergangs des römischen Reichs“ (1774) schreibt er, daß seit dem dritten Jahrhundert im italienischen Volke infolge der germanischen Einwanderung eine physiologische Umwandlung vor sich ging, indem die Volksvermehrung zunahm, das Militärmaß größer wurde, Sitten und Anschauungen andere wurden. „Die Gestalt der Menschen“, heißt es, „wurde immer kleiner, und die römische Welt war in der Tat mit einem Geschlecht von Zwergen bevölkert, als die wilden Riesen aus Norden einbrachen und die kleine Brut verbesserten. Diese stellten den männlichen Geist der Freiheit wieder her und nach dem Umlauf von zehn Jahrhunderten wurde die Freiheit die glückliche Mutter des Geschmacks und der Wissenschaften.“

Noch deutlicher hat Schnaase in seiner „Geschichte der bildenden Künste“ (1865—79) den Einfluß der germanischen Rasse auf die italienische Kulturgeschichte hervorgehoben: „Vor allem zeigte sich die Verschiedenheit der Mischung der germanischen und italienischen Rassen zwischen dem oberen lombardischen Italien und den südlichen Provinzen. Während dort jener Zusatz germanischen Blutes höchst kräftig war und bei der neuen Gestaltung der Dinge augenscheinlich mitwirkte, war er in Unteritalien schwach, so daß die Bevölkerung im ganzen den Charakter behielt, den sie ohne denselben haben mußte, sich willenlos fremden Völkern unterwarf, und nur durch den Einfluß, den die Normannen, Deutschen, Franzosen allmählich ausübten, und durch den Verkehr mit dem nördlichen Italien sich demselben näherte. Zwischen beiden stand Rom, das gerade, indem es den germanischen Einfluß abwehrte, von demselben wenigstens Widerstandskraft annahm.“

L. Wilser schrieb in seinem „Stammbaum und Ausbreitung der Germanen“ (1895): „Durch die Einwanderung der germanischen Völker wurde in Italien außer dem nordischen Stil auch deren Schönheitsideal heimisch; es ist der Adel langobardischer Erscheinung, den wir in den Meisterwerken Tizians, Lionardos, Paolos bewundern.“

Der erste Schriftsteller, der auf einen unmittelbaren anthropologischen Zusammenhang zwischen den Germanen und den großen Genies in der Renaissance hinwies, war H. St. Chamberlain, der in seinen „Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts“ (1899) betonte, daß die großen Genies Italiens den physischen Typus des germanischen Stammes hätten und Nachkömmlinge der einst eingewanderten Goten und Langobarden seien.

Mit überlegener Anschauungskraft hatte Gibbon ein historisches Problem erkannt, dessen kurze und prägnante Formulierung auf mich den tiefsten Eindruck gemacht hat. Sie regte mich an, den Ansichten anderer Forscher über diese Frage nachzuspüren, und da ich hier ein noch unbearbeitetes Feld anthropologisch-historischer Untersuchung vorfand, selbst an die Klärung und Lösung der Aufgabe heranzugehen.

Dabei leitete mich die Idee einer anthropologischen Kulturgeschichte, die sich drei Aufgaben zum Ziele setzt: erstens die Entwicklung der sozialen Einrichtungen und geistigen Ideen und Werke von ihren ersten Anfängen bis zur höchsten Differenzierung zu verfolgen; zweitens die anthropologische Geschichte eines Volkes, seine Einwanderung, Niederlassung, soziale Gruppierung, die Rassenmischungen, das Aufsteigen und Aussterben der Familien, die Hervorbringung der Genies zu erforschen; und drittens zu zeigen, welches ursächliche und gesetzmäßige Verhältnis zwischen der physiologischen und ideologischen Geschichte eines Volkes besteht, von welchen anthropologisch bestimmbaren Gruppen und Individuen die entscheidenden Ideen und Taten ausgehen und welche organische Ursachen schließlich zur Blüte, zum Stillstand und zum Verfall einer Kultur führen.

Von diesem Gemälde einer allgemeinen Rassen- und Geistesgeschichte des Menschengeschlechts entwerfe ich hier eine Skizze von derjenigen Periode, die in der neueren Kulturgeschichte die größte Rolle gespielt hat. Italien ist auch das geeignetste Objekt für eine solche Untersuchung. Seine soziale und geistige Geschichte ist gründlich erforscht, und kein Volk Europas ist in seiner anthropologischen Struktur so genau bekannt wie das italienische. Nirgends finden wir auch so zahlreiche und vortreffliche ikonographische Hülfsmittel, Bildnisse, Büsten, Statuen, Medaillen, und nirgends eine so umfangreiche und ausgezeichnete genealogische und biographische Literatur.

Trotzdem fehlten für eine solche Untersuchung fast alle Vorarbeiten. Mehrere Fachwissenschaften, die man sonst ängstlich voneinander fern hält, mußten in engste Fühlung gebracht werden: Historie, Anthropologie, Philologie und Porträtkunde mußten zusammenwirken, um die Geschichte der Menschen, der Einrichtungen und Ideen dem Blicke des Forschers zu enthüllen. Auf dem Gebiete der italienischen Namenkunde betrat ich ein von den Germanisten vollständig unbebautes und vernachlässigtes Feld der Sprachwissenschaft. Die schwierigste Aufgabe aber war, das vielfach verborgene oder zerstreute biographische und ikonographische Material aufzufinden und zugänglich zu machen, und man wird sich schwerlich eine Vorstellung davon machen, welche Mühe es nicht selten gekostet hat, festzustellen, ob jemand blaue oder braune Augen, ob er schwarze oder blonde Haare gehabt hat. Aber erst durch die Summierung zahlreicher Einzeltatsachen ward es möglich, in den dunkeln und verwickelten Beziehungen zwischen Rasse und Genius Klarheit zu schaffen.

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